Risiken einschätzen und darauf eingehen
Momente, in denen ihnen das Herz stehenbleibt und gleichzeitig aufgeht, erleben Kerstin Lange und Jana Seidel-Burger täglich. Wenn die Kinder des Freiburger Waldkinder e.V. rutschen, rennen und stolpern, sind sie zufrieden. Auch wenn sich in ihrer Obhut noch kein Kind etwas gebrochen hat, gehen sie damit mit der Kinderrechtsaktivistin Marjory Allen konform, die einst sagte, dass ein gebrochener Knochen einem gebrochenen Geist vorzuziehen ist. Ihr Verständnis von Risikobewusstsein, Risikorelevanz und dem Gefühl für den richtigen Moment vermitteln die Sozialpädagogin und die Forstwirtin am Beispiel einer ihrer täglichen Begleitungen der Jüngsten in den Wald.
Jeden Vormittag gehen wir mit unseren Jüngsten vom Sammelplatz durch den Wald zur Schutzhütte, wo sie etwa dreieinhalb Stunden später wieder abgeholt werden. Wer glaubt, ein Weg durch den Wald würde mit der Zeit langweilig, irrt sich, denn bei uns ist der Weg das Ziel. Täglich erkunden wir neu, welche Abenteuer er für uns bereithält. Im Laufe der Jahreszeiten verändert er sich ohnehin. Dann ist vielleicht der Holunder auf der kleinen Lichtung aufgeblüht oder die zarten Weidenkätzchen, die hingebungsvoll gestreichelt werden wollen. Vielleicht aber hat der Wind auch jede Menge Bucheckern von unserer großen Rotbuche heruntergeweht oder vielleicht sogar den einen oder anderen Zweig. Heute, nach einer regnerischen Nacht, hat er sich in eine Art Schlammpiste verwandelt.
Mehr oder weniger steil
Mancher Aufstieg, der am sonnigen Vortag ein Kinderspiel war, ist heute eine besondere Herausforderung. Vor allem, wenn das Baby im Tragetuch den Körpermittelpunkt spürbar verändert und die Sicht auf haltgebende Steine, Baumstämme und Wurzeln einschränkt. In schwierigen Situationen stellen wir auch schon mal einen Fuß zur Unterstützung hinter den Fuß des Kindes. Das gibt Sicherheit und man kann sich daran abdrücken.
Auch in der von Wasser und Kinderfüßen über Jahre entstandenen Kletterrinne ist es heute rutschig. Nachdem zwei Kinder mehrere Stellen ausprobiert haben, finden sie einen brauchbaren Einstieg. Wie kleine Tiger klettern sie unbeirrt nach oben. Auf allen Vieren und wenig beeindruckt von den Steinchen, die sich aus der feuchten Erde lösen, statt Halt zu bieten, und den Wurzeln, die gestern noch perfekte Klettergriffe waren, heute aber wie Seife durch die Hände flutschen. Sogar jenen Abschnitt, wo gar keine Steine oder Wurzeln Halt bieten, meistern die beiden. Oben angekommen, sehen wir sie über die besonders große Wurzel steigen und Richtung Waldweg abschwirren, wo sie mit viel Freude die Kinder einholen wollen, die heute den leichteren Weg gewählt haben. Je schneller sie rennen, umso lauter werden ihre Juchzer. Sie versuchen, sich gegenseitig zu überholen. Wer stolpert, steht wieder auf und rennt weiter.
Doch nicht allen Kindern steht der Sinn nach Streckemachen. Mindestens so oft geht es für sie zurück auf Start: Auf den Popo, fertig, los! Dass einige Kinder gerade heute von ihrer »Matschrutsche« magisch angezogen werden, wundert uns kein bisschen. Wie anders kann ein- und derselbe Weg sein, wenn Baumstämme und Baumwurzeln beim Aufstieg Haltegriffe sind und kurz darauf barrierefreies Rutschen verhindern? Da bleibt sogar mal ein Gummistiefel zwischen zwei Steinen stecken oder ein Fuß in einer Baumwurzel. Die Erfahrung, schwierige Situationen zu meistern – aus eigener Kraft oder weil jemand meinen Fuß samt Gummistiefel aus der Baumwurzel befreit – ist eine wichtige Erfahrung. Eine riskante, aber keine gefährliche. Dafür sind die Abhänge zu flach und die Rutschpartie zu entschleunigt.
Kerstin Lange ist Diplom-Sozialpädagogin und hat zusammen mit der Diplom- Forstwirtin Jana Seidel-Burger die Einrichtung Waldkinder e.V. in Freiburg wesentlich aufgebaut und gestaltet. Dort betreuen sie zusammen mit ihrem Team Kinder im Alter von eineinhalb bis zwölf Jahren in mehreren altershomogenen Gruppen. In Betrifft KINDER 11-12/22 und 05-06/23 erschienen ihre Beiträge zur Bedeutung von Wasser und Feuer in ihrer pädagogischen Praxis in Wasser Marsch und Mehr als Knallen und Knistern. Gemeinsam sind sie Co-Autorinnen der 2020 bei verlag das netz erschienenen Publikation Natürlich draußen. Mit den Jüngsten im Naturraum unterwegs und teilen neben der Liebe zur Natur auch die Leidenschaft für Atelier- und Werkstattpädagogik.
Kontakt
www.waldkinder.net
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2024 lesen.