Annäherungen an die zeitgenössische Bilderbuchkunst Chen Jianghongs
Dicht gedrängt sitzen Große und Kleine an den Seminartischen des Konfuziusinstituts in Leipzig und lauschen dem chinesischen und in Paris lebenden Künstler Chen Jianghong. Wie in einem frontal organisierten Klassenzimmer steht der Meister an der Tafel, malt vor seinen aufmerksamen Zuhörern und Zuschauern und gibt auf diese Weise Bildvorlagen, die die Kinder und Erwachsenen mit großer Ausdauer und Ernsthaftigkeit nachmalen.
Dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich vorbehaltlos auf den Workshop einlassen, erstaunt im ersten Moment, denn nicht die eigenen Themen der »Schülerinnen« und »Schüler« stehen im Vordergrund, sondern die des Künstlers, nicht der individuelle Pinselstrich wird vom Künstler unterstützt sondern die traditionelle Arbeitsweise der chinesischen Malerei und nicht das Tempo der Lernenden bestimmt den Prozess, sondern der Rhythmus Chens. Warum sich Kinder wie Erwachsene auf diese stark geführte Vermittlungssituation einlassen, dem geht Kirsten Winderlich nach.
Zur Bilderbuchkunst Chen Jianghongs
Chen Jianghong ist ein Künstler, der in den Zeiten der Kulturrevolution in China aufgewachsen ist und eine Ausbildung in der traditionellen chinesischen Malerei absolviert hat. Seit ein paar Jahren fallen seine Bilderbücher auf, hinter denen er überwiegend für Text und Bild gleichermaßen als Autor steht. Seine Geschichten werden von Themen getragen, die sich aus Mythen, Sagen und Legenden entwickeln, die Menschen unabhängig ihrer kulturellen Herkunft bewegen.
Der Tigerprinz
»Der Tigerprinz« ist zum Beispiel ein Bilderbuch, das an Geschichten anknüpft, die von verwaisten oder ausgesetzten kleinen Kindern erzählen, die von wilden Tieren aufgenommen und großgezogen werden. Der kleine Junge Wen wird in der Geschichte des Tigerprinzen jedoch nicht von bösen Eltern ausgesetzt, sondern als Sühneopfer für die Untaten der Jäger, die in der Vorgeschichte die Kinder der Tigermutter erschossen und aus diesem Grund die Rache der Tigerin auf sich gezogen ha-ben. Das einzige, was die Tigerin besänftigen und die Untertanen schützen kann, ist die Übergabe des Königskindes Wen als Ersatz für die getöteten Jungen der Tigerin. Das Beeindruckende in der Bilderbuchgeschichte ist nun, dass Wen in vollem Bewusstsein und ohne Angst in die Wildnis geht, die Sprache der Tigerin lernt und ihre Lebensweise annimmt. Nicht nur dieses bedingungslose Einfügen in die neue Welt, sondern auch die Liebe, die Wen der Tigerin wie seiner eigenen Mutter entgegenbringt, ist es schließlich, die die Tigerin besänftigt und sie verstehen lässt, dass Wen zu seiner Menschenmutter zurückkehren muss.
Getragen werden diese auf Mythen beruhenden Geschichten Chens durch Bilder, die sich zwischen einer Malerei mit kräftigen breiten Pinselstrichen, aus denen Flächen, Flecken und Kleckse in Tusche und zerfließenden Farben entstehen, und einer stark grafischen Malerei, in der Details in den Fokus rücken und die Geschichte verdichten, bewegen. Gerade vor dem Hintergrund dieses besonderen Wechselspiels in Chens Malerei wird ein Prinzip traditioneller chinesischer Malerei deutlich, das sich auf das die traditionelle Malerei prägende Wechselspiel von Leere und Fülle bezieht und auf diese Weise eine Unbestimmtheit oder auch eine Aura des Geheimnisvollen kultiviert. Dem Geheimnisvollen Raum zu geben, bedeutet für die chinesische Malerei, dass nicht alles Wesentliche in den Bildern offenbart wird, sondern vielmehr immer etwas Unbestimmtes bleibt, das sich erst durch unsere Anteilnahme und Imagination präzisiert.
In seinen Bilderbüchern verknüpft Chen diese traditionelle chinesische Malerei mit Tusche und Wasserfarben auf Reispapier, Landschaften eher andeutend als ausformuliert, mit einer eigenwilligen Malerei, die mit Hilfe von aus Fotografie und Film bekannten Perspektivwechseln, Sequenzen, Schnitten und Einstellungen spielt. Tiere und Szenen werden demnach in unterschiedlichen Größen und aus vielfältigen Perspektiven gezeigt, wobei insbesondere das Mittel der Nahaufnahme durch ein Heranzoomen spannungsreich eingebaut wird. In den Bildern, in denen die Nahaufnahme und das Detail wirken, fallen häufig Augenpaare auf, die starke Gefühle wie Zorn, Schmerz oder Angst ausdrücken und das innere Erleben der Betrachter unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft berühren.
Besonders deutlich wird die Bedeutung der tradierten chinesischen Kunst und Kultur durch kurze Beschreibungen von Kunstwerken, die Chen zu seinen Bilderbuchgeschichten inspiriert haben. War zum Beispiel für das Bilderbuch »Der Tigerprinz« ein Bronzegefäß aus dem 11. Jahrhundert v. Chr., das einen überraschend gelassenen Kinderkopf in dem gefährlich anmutend aufgerissenen Maul einer Tigerin zeigt, ein besonderer Ausgangspunkt, stellte für das Bilderbuch »Han Gan und das Wunderpferd«, ein Meisterwerk des vor mehr als 1.200 Jahren in China lebenden Künstlers Han Gan, einen wichtigen Impuls dar.
Das Werk »Pferde und Reitknechte« in Tusche und Farbe auf Seide ist im Museum Cernuschi in Paris zu sehen. An dieses Gemälde anknüpfend entwickelt Chen eine ganz eigene Geschichte Han Gans, die auch als seine eigene gelesen werden könnte. Weist doch das jüngere und 2009 in Deutschland erschienene Buch »An Großvaters Hand«, in dem Chen seine Kindheit in den Zeiten der chinesischen Kulturrevolution beschreibt, Parallelen zur künstlerischen Faszination Han Gans an der Zeichnung im Spannungsfeld von Tradition und Eigensinn auf.