Aufsichtspflicht aktuell. Wer kämpft tatsächlich gegen Windmühlen? Kann der Autor am Schreibtisch den Kampf gegen die Hochsicherheitsexperten gewinnen und ihrem unermüdlichen Streben nach Sicherheit Einhalt gebieten? Oder kämpft das Deutsche Institut für Normung (DIN) mit allen anderen Sicherheitskräften einen aussichtslosen Kampf gegen die Risiken des Lebens? Und wer zwingt uns, unsinnigen Vorgaben bedingungslos zu folgen? Ein Vorabdruck aus dem Buch: Aufsichtspflicht. Von Roger Prott.
Der Anlass
Mich erreichte eine beunruhigende Information. Sie bestand zunächst nur in der Behauptung, in Deutschland dürften Kinder unter drei Jahren nie aus den Augen gelassen werden. Außerdem müssten, um diese Verpflichtung besser erfüllen zu können, im Außengelände von Kindertageseinrichtungen neue Kleinkindbereiche durch Zäune abgeteilt werden. Als Beleg wurde mir der folgende Text vorgelegt:
In Deutschland besteht für Kinder, insbesondere für Kinder unter drei Jahren, eine gesetzliche Aufsichtspflicht (BGB), die nur dann erfüllt werden kann, wenn Kinder unter drei Jahren begleitet werden und die Begleitperson mitbestimmen kann, ob und welches Gerät vom Kind benutzt werden kann/darf.1
Daraus, so wurde mir versichert, wird bei den so genannten Begehungen zur Erteilung oder Überprüfung von Betriebserlaubnissen eindringlich die – angeblich – notwendige vollständige Überwachung der Kinder und Anwesenheit der Erzieherinnen abgeleitet. Und aus der Setzung der vollständigen Überwachung wiederum wird die Einzäunung separater Kleinkindbereiche auf dem Kindertagesstättengelände gefordert. Beleg hierfür:
Die bisherigen Erfahrungen der Unfallkasse NRW … haben gezeigt, dass es sinnvoll und angemessen ist, Spielbereiche für diese Altersgruppe abzugrenzen und einzufrieden. Organisatorische und aufsichtsrechtliche Fragestellungen werden dadurch positiv beeinflusst und die Belastungen des pädagogischen Personals reduziert…
Zusätzlich besteht in Deutschland die gesetzliche Verpflichtung, Kinder unter drei Jahren auf Spielplätzen zu beaufsichtigen.2
Zum Inhalt und sachlichen Gehalt wird später Bezug genommen. Zunächst einmal gilt es, die Beteiligten vorzustellen. Wer sind die Autoren der Texte, wer die Vermittler, wer die Empfänger?
Die Beteiligten
Die Quelle, auf die sich letztlich alle berufen, heißt DIN. Jedes Schulkind kennt »Dinavierbögen« oder korrekter ein Blatt Papier im Format A 4 des Deutschen Instituts für Normung e.V., kurz DIN A 4. DIN kann sowohl für das Institut stehen, als auch für die Deutsche Industrienorm, meist mit einer Nummer zum besseren Einordnen ergänzt. Die DIN werden, das ist eine Folge des Zusammenwachsens in Europa, nach und nach abgelöst durch Europäische Normen (EN), welche manchmal weitgehend identisch mit den vormaligen deutschen Regelungen sind, manchmal auch ergänzend oder korrigierend wirken. Das DIN gibt Selbstauskunft:
Normen sind Regeln der Technik, die grundsätzlich empfehlenden Charakter haben und deren Anwendung daher freiwillig ist. Sie können jedoch verbindlichen Charakter durch vertragliche Vereinbarung oder auch Bezugnahme durch den Gesetzgeber erhalten.3
Normen spiegeln den Stand der Technik, den wünschenswerten Stand der Umsetzung und Anwendung. Sie sind nicht Gesetz. Sie können jedoch wichtige Informationen enthalten darüber, was in den normierten Bereichen technisch angemessen ist. Ca. 3.000 Normen sind es allein für die deutschen Verbraucher. Papiergrößen gehören dazu, die physikalischen Eigenschaften von Zahnbürsten und eben auch Sicherheitsnormen für Spielgeräte und Spielplätze. Die DIN sind in weiten Bereichen Selbstverpflichtungen der deutschen Industrie. Das DIN wirkt als Lobby der deutschen Industrie im Inland wie für den Export.
Ebenfalls beteiligt ist die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen. Ihre Sicherheitsexperten berufen sich auf die DIN und die dazugehörigen Erläuterungen, und auch das obige Zitat übernimmt fast wörtlich Aussagen von dort. Die Unfallkassen (der Länder) sind die Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung. Ihre Anordnungen haben zum Teil gesetzlichen Charakter. Das gilt jedoch nicht für alle Äußerungen, Empfehlungen oder Verlautbarungen, ob sie nun offiziell durch die Institution Unfallkasse oder ob sie nur von einzelnen Vertretern – als deren persönliche Meinungsäußerung – an die Öffentlichkeit gelangen.
Damit bin ich bei einer Unterscheidung angelangt, die in diesem Zusammenhang äußerst wichtig ist. Wie bei allen Arbeitsgebieten, die unmittelbar von der Art abhängen, wie die Leistung erbracht wird, kommt es vor, dass die Ausführung der Aufgaben mehr als zulässig oder offiziell gewünscht von Einzelpersonen interpretiert werden. Manchmal arbeiten sie zu lasch, manchmal überziehen sie und schießen über Auftrag und Ziel hinaus. Das gibt es bei Kellnern, Verkäuferinnen, Friseuren, Erzieherinnen und auch bei den Mitarbeitern der Unfallkassen vor Ort. Und schließlich trifft das auch auf Trägervertreter von Kindertageseinrichtungen zu, auf Fachberater und Fachberaterinnen mit und ohne Weisungsbefugnis, auf Qualitäts- und so genannte Sicherheitsbeauftragte; gemeint sind Menschen, die im pädagogischen Feld als Pädagogen Multiplikatorenfunktionen ausüben und auf mindestens einer hierarchischen Ebene über den Kindertageseinrichtungen für die Entwicklung des pädagogischen Angebots verantwortlich sind.
Auch manche von ihnen sind Beteiligte in dieser Fallstudie. Sie tragen die berichteten Informationen weiter oder lassen sie unkommentiert in die Tageseinrichtungen gelangen. Sie tragen zur Verunsicherung und zur Desorientierung der Erzieherinnen bei. Trotz ihrer Verantwortung für Entwicklung bremsen sie, wirken an Einschränkungen mit.
1 Agde/Beltzig/Danner/Lorentzen/Richter/Settelmeier: Spielgeräte – Sicherheit auf Europas Spielplätzen. Erläuterungen in Bildern zu DIN EN 1176. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 4., vollständig überarbeitete Auflage 2009, S. 6
2 Unfallkasse Nordrhein-Westfalen: Sichere Kita. Siehe www.sichere-kita.de
3 Agde/Degünther/Hünnekes: Spielplätze und Freiräume zum Spielen. Ein Handbuch für Planung und Betrieb. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag.